In den letzten Monaten wurden in deutschen Großstädten (München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf, Mainz und Stuttgart) wiederholt Polioviren in Abwasserproben festgestellt. Diese Viren sind eng mit dem Schluckimpfstoff assoziiert und werden als „circulating vaccine-derived poliovirus type 2” (cVDPV2) klassifiziert. Die Impfpolioviren können sich durch spontane (Rück-)Mutation genetisch so verändern, dass sie impfstoffabgeleitete Poliovirus (VDPV) Erkrankungen hervorrufen können. Das Robert-Koch-Institut stuft die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung des Virus auf den Menschen in Deutschland als zunehmend hoch ein (Epidemiologisches Bulletin 27/2025, Link siehe unten).
Polioviren werden hauptsächlich durch fäkal-orale Kontakte übertragen. Durch den hohen Hygienestandard in Deutschland spielt vermutlich auch die Ansteckung über die Atemwege eine größere Rolle (Deutsches Ärzteblatt, 3.7.2025, Link siehe unten). Polioviren verbreiten sich zuerst im Rachen und können dann durch Tröpfchen übertragen werden. In der Mehrzahl der Fälle verläuft die Infektion asymptomatisch (>95%). Bei 4-8% der Infizierten kann es zu einer grippeähnlichen Symptomatik wie Gastroenteritis, Fieber, Übelkeit, Kopfschmerzen usw. kommen. Ist das zentrale Nervensystem betroffen, kommt es in seltenen Fällen (2-4%) zu einer aseptischen Meningitis oder noch seltener (0,1-1%) zu einer paralytischen Poliomyelitis mit Lähmungen – wie dies 2022 bei einem nicht geimpften jungen Mann aus New York der Fall war. In Einzelfällen kann auch die Atemmuskulatur betroffen sein und die Poliovirusinfektion tödlich verlaufen. Jahre oder Jahrzehnte nach der Erkrankung kann es zu einer Zunahme von Paresen mit Muskelatrophie kommen. Dieser als Postpolio-Syndrom bezeichnete Krankheitsverlauf kann Jahre oder Jahrzehnte nach der Erkrankung einsetzen. Eine spezifische Therapie mit antiviralen Substanzen gibt es nicht.
Globale Initiative zur Ausrottung der Poliomyelitis (Global Polio Eradication Initiative, GPEI)
Bereits vor 10 Jahren (2015) wurde die Ausrottung von Poliowildviren des Typs 2 durch die WHO erklärt (letzter Nachweis war 1999 erfolgt), nachfolgend dann auch 2019 Poliowildviren des Typs 3 (letzter Nachweis 2012). Es zirkulieren derzeit ausschließlich Poliowildviren Typ 1 (WPV1) und das auch nur noch in zwei Ländern (Pakistan und Afghanistan). Nichts desto trotz gibt es auch in anderen Ländern Poliofälle, die von Impfstoff abgeleiteten Polioviren (VDPV) ausgelöst werden (siehe auch aktuelle Nachweise in Deutschland).
In Deutschland wird aus Sicherheitsgründen seit 1998 ausschließlich inaktivierter Polioimpfstoff verwendet, dieser enthält alle 3 Poliovirustypen und verhindert die Erkrankung gut, nicht jedoch die Infektion und Weitergabe des Erregers. Laut dem RKI sind nur ca. 21% der Einjährigen und 77% der Kinder im Alter von 2 Jahren in Deutschland vollständig gegen Polio geimpft (Impfquoten RKI, Link siehe unten). Dem steht entgegen, dass die Grundimmunisierung bei Kindern im Alter von 12 Monaten abgeschlossen sein sollte . Sollte es zu einem lokalen Wiederauftreten des Virus durch Einschleppung kommen, besteht daher die Möglichkeit einer unbemerkten Verbreitung. Als vollständig geimpft gilt, wer eine komplette Grundimmunisierung sowie eine Auffrischimpfung erhalten hat. Für Massenimpfungen etwa in Afrika, Indien oder auch im Gaza werden insbesondere orale Impfstoffe mit nur einem Virus (monovalent OPV, „mOPV“) oder zwei Virustypen (bivalent OPV, „bOPV“) eingesetzt, da sich diese Impfviren im Darm vermehren, weitergegeben werden und zu einer Herdenimmunität führen. In Ländern mit niedriger Impfquote kann das sehr gefährlich werden, da dann ein hohes Risiko für Ausbrüche durch zirkulierende impfstoffabgeleitete Polioviren besteht. Dies gilt für alle Polioviren (Typ 1+2+3).
Laut WHO sind Stand 07/2025 Staaten, in denen WPV1, cVDPV1 oder cVDPV3 zirkuliert und von denen ein potentielles Risiko für eine internationale Ausbreitung ausgeht: Afghanistan (WPV1), Pakistan (WPV1), D.R. Kongo (cVDPV1), Mosambik (cVDPV1), Französisch-Guayana (cVDPV3), Guinea (cVDPV3).
Auf diese Weise können die Viren durch Reisende wieder nach Deutschland gebracht werden und zu Erkrankungen führen.
Dies bedeutet: Vollständige Impfung bietet den besten Schutz!
Überprüfung der Immunität
Zum Nachweis einer Immunität spielen serologische Antikörpernachweise eine bedeutende Rolle.
Für Polioviren steht ausschließlich ein Neutralisationstest (nach WHO) zur Verfügung. Durch den Neutralisationstest können quantitative Titer der schützenden, neutralisierenden Antikörpern bei Polioviren nach Impfung bestimmt werden.
Leider ist der Antikörpernachweis gegen Polio Typ 2 durch das Labor-Containment aktuell nicht mehr möglich. Dies wäre jedoch jetzt sehr sinnvoll, um den Immunstatus gegen Polio Typ 2 zu bestimmen. Ursächlich hierfür ist eine Maßnahme nach der Eradikation von Poliovirus Typ 2: Im Rahmen des Global Poliovirus Containment Action Plans (GPCAP), wurden medizinische Labore und Einrichtungen weltweit aufgefordert alle Polioviren des Typs 2 zu vernichten, wenn sie nicht für entscheidende nationale/ internationale Belange zwingend erforderlich waren, wie z.B. für die Impfstoffherstellung.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Maßnahme nicht auch noch für Poliovirus Typ 3 erfolgt, da bei der Untersuchung von über 90 000 Patientenproben ein verminderter Schutz gegen Poliovirus Typ 3 in Deutschland nachgewiesen werden konnte.
(DOI: 10.1016/j.jcv.2023.105471 )
Nach wie vor bieten wir in unserem Labor den Antikörpernachweis für Polio Typ 1 und Polio Typ3 mittels Neutralisationstest an.
Für weitere Informationen siehe:
https://www.rki.de/DE/Aktuelles/Publikationen/RKI-Ratgeber/Ratgeber/Ratgeber_Poliomyelitis.html
Verantwortlich für den Inhalt:
Priv.-Doz. Dr. Maren Eggers (0711-6357-130)
Dipl. Biol. Veronika Rilling (0711-6357-146)